Sehr geehrte Damen und Herren,

besten Dank für das Schreiben von Herrn Gerber, in dem auf die Sendung "Heute jung, mor­gen arm" des BR vom 17.03. d.J. Bezug genommen wurde.

Das von Frau Jakobi (BR) mit mir geführte Interview zu Fra­gen der langfristigen Finanzier­barkeit des gesetzlichen Ren­tensystems wurde in der Sen­dung leider nur in Gestalt eines sehr kurzen Ausschnitts ver­wendet, der sich allein der The­matik versicherungsfremder Leistungen widmete und die aus meiner Sicht wichtigen und interessanten Fragen beiseite ließ. Vor diesem Hintergrund hier einige hoffentlich klären­de Anmerkungen zu Ihrer An­frage.

1. Die von Ihnen zitierte Aus­sage bezieht sich auf die Situa­tion ab 1999 bzw. 2002, d.h. im bzw. nach dem letzten, recht massiven Ausbau der aus allge­meinen Haushaltsmitteln des Bundes geleisteten Zahlungen an das Budget der GRV. Eine Summierung der in den voran­gegangenen Jahren aufgelau­fenen "Defizite" wegen gerin­gerer Bundesmittel wäre einem umlagefinanzierten Siche­rungssystem völlig unangemes­sen: Würde der Bund die auf diesem Wege genommenen "Kredite" zu irgendeinem Zeit­punkt tilgen, hätte das ganz andersartige Konsequenzen für die intergenerationelle Lastver­teilung als eine ordnungsge­mäße laufende Finanzierung sie gehabt hätte.

2. Für den damit abgegrenzten Zeitraum liegen mir -- sicherlich auch Ihnen -- die zuletzt von Reineke (2012) aktualisierten Angaben des VDR bzw. neuer­dings der DRV vor. Sie stützen die von mir getroffene Aussage für die vom VDR 1995, d.h. auf dem Höhepunkt einer sinnvol­len Diskussion über die Finan­zierung versicherungsfremder Leistungen durch erhöhte Bun­desmittel, getroffene Abgren­zung solcher Leistungen ohne Wenn und Aber. Die von der DRV selbst ins Spiel gebrachte "erweiterte Abgrenzung" halte ich dagegen nicht für sachge­recht.

a) Bei der Diskussion über das zukünftige Finanzierungsver­fahren der GRV wurde Mitte der 1950-er Jahre darauf hinge­wiesen, dass ein Vorteil des Umlageverfahrens darin liege, dass die Bevölkerung der da­maligen DDR zu gegebener Zeit ohne Friktionen in das Sys­tem aufgenommen werden könne (vgl. Nell-Breuning 1956, S. 100f.). Dass die -- bei gewis­sen andauernden Differenzie­rungen der Rechnungsgrund­lagen -- bundeseinheitliche Rentenversicherung angesichts der divergierenden Arbeits­marktentwicklung ab 1991 fak­tisch eine regionale Ausgleichs­funktion angenommen hat, kann als solches noch nicht als versicherungsfremd gewertet werden. Mit im Kern demsel­ben Argument hat die damali­ge Bayerische Staatsregierung in den 1990er Jahren gelegent­lich eine regionale Differenzie­rung von Renten- und v.a. Krankenversicherungssystem gefordert, um "Süd-Nord-Transfers" zu vermeiden. Das ließe sich künstlich beliebig weiter treiben, widerspricht aber Grundideen unserer bun­desstaatlichen Finanzverfas­sung und Sozialordnung.

b) Die Absicherung Hinterblie­bener wird seit 1911 als eines der drei zentralen Versiche­rungselemente (Invalidität, Langlebigkeit, Hinterbliebe­nenschaft) der deutschen Re­gelalterssicherung geführt. Un­ter stark gewandelten sozio-ökonomischen Rahmenbedin­gungen könnte man über diese Rolle in jüngerer Zeit sicherlich diskutieren. Ich habe in einer eigenen Forschungsarbeit -- allerdings aus Anreizgründen -- bereits eine Abschaffung von Witwen- und Witwerrenten empfohlen (Werding 2008). Um diese Leistung mit den von Ih­nen intendierten Folgen (einer entsprechenden Erhöhung der Bundesmittel) als versiche­rungsfremd zu klassifizieren, bedürfte es angesichts der lan­gen Tradition und der dabei gegebenen Leistungsverspre­chen m.E. aber eines expliziten, gesetzlichen Beschlusses. Fer­ner müsste man bei einer Aus­grenzung aus den versicherten Risiken wohl hinreichend lange Übergangsfristen gewähren.

3. Die eigentlichen Herausfor­derungen für die zukünftige Finanzierung unseres Renten­systems sehe ich schließlich an ganz anderer Stelle. Sie kennen möglicherweise einige meiner angewandteren Arbeiten zu den absehbaren Effekten des demographischen Wandels für das deutsche Rentensystem. Diesen Problemen kann mit Mitteln der Umfinanzierung (Bundesmittel statt Beitrags­aufkommen o.ä.) nicht begeg­net werden.

Mit freundlichen Grüßen
Martin Werding

Unsere Antwort an Herrn Professor Werding